Von Tricks und Lügen
Der Tag der Abreise aus Tafraoute trägt für mich immer einen Hauch von Wehmut in sich. Es ist dieser Ort, der mir seit Jahren ein Platz des Rückzugs war – ein Ort, an dem ich die Gedanken schweifen lassen, in die Stille eintauchen und das Philosophische in mir zum Leben erwecken konnte. Und doch war in diesem Jahr alles anders. Unser Ankommen war von Aufregung und Unsicherheit begleitet – und von kleinen Intrigen, die man so nicht erwartet hätte.
Schon bei der Anfahrt merkten wir, dass etwas nicht stimmte. Der grosse Platz, sonst erfüllt von Hunderten von Fahrzeugen, lag völlig leer und still vor uns. Kein einziges Wohnmobil, keine Stimmen, keine Bewegung. Stattdessen rollte ein Motorradfahrer auf uns zu, begrüsste uns freundlich mit einem „Bonjour“ und fragte, ob wir auf den Platz wollten. Natürlich wollten wir – gerade dieser Platz war für uns immer ein kleines Paradies. Doch seine Antwort traf uns unerwartet: „Das geht nicht mehr. Der Gemeindepräsident hat den Platz geschlossen.“
Verblüfft hörten wir weiter zu. Es gebe nur noch zwei Möglichkeiten: den Campingplatz oder den Werkstattplatz am Rande der Stadt. Der eine koste 1.50 Franken, der andere – „viel zu teuer“ – gleich 6 oder 7 Franken, je nach Anzahl Personen. Wir sahen uns an, fragten uns, ob das stimmen konnte. Warum sollte die Gemeinde ihre wichtigste Einnahmequelle einfach schliessen? Die Geschichte klang sonderbar, und doch stand die Frage im Raum: Glauben wir dem Mann – oder stellen wir uns einfach hin und sehen, was passiert?
Am Ende entschieden wir uns für den Aussenbereich des Campings, der immerhin noch ein Stück Freiheit versprach. Doch was wir dort fanden, war alles andere als das, wonach wir suchten: eng gestellte Fahrzeuge, drückende Nähe, und direkt neben uns ein riesiger, weisser Morelo. Diese rollenden Paläste mögen für ihre Besitzer ein Traum sein, doch sie verbauen den anderen Campern jede Aussicht – Mauern auf Rädern, die den Himmel verdecken. Die geplanten vier Tage wollten wir schon am ersten Abend verkürzen. Von der Weite Tafraoutes, von der Ruhe, die wir hier zu finden hofften, blieb nur ein Schatten.
Doch das Leben hat oft seine eigene Dramaturgie – es stellt uns Hindernisse in den Weg, nur um uns dann eine unerwartete Tür zu öffnen. Diese Tür zeigte sich in Gestalt eines Berberhändlers, der in der Stadt einen Laden führt. Er lud uns ein, ihn zu besuchen, und im Gespräch fragte Christine beiläufig, warum der Platz geschlossen worden sei. Seine Augen weiteten sich: „Geschlossen? Aber nein! Der Platz ist nicht geschlossen.“
Und dann sprudelte es aus ihm heraus. Der Campingbesitzer erzähle den Leuten bewusst diese Lüge, um seinen Platz voller zu machen. Der Motorradfahrer sei nichts weiter als ein Handlanger, der die Geschichte von der Schliessung streue. So sei der Camping bis an den Rand gefüllt – und der Profit sicher. Doch die Stadt verliere damit viel mehr, als sie gewinne. Denn wer im Gedränge eines überfüllten Campings festsitzt, bleibt nicht lange. Und so gehen alle anderen leer aus: der Maler, der mit Geduld kunstvolle Bilder auf Wohnmobile malt; die kleinen Läden, in denen man nicht aus Pflicht, sondern aus Freude einkauft; der Schuhmacher, dessen Werk nur die findet, die Zeit haben, durch die Gassen zu schlendern.
Tafraoute lebt nicht vom schnellen Durchzug. Es lebt von der Freiheit, die Reisende hier empfinden, von der Zeit, die sie sich schenken – und von dem Raum, den sie dabei auch der Stadt schenken. Dieses Gefühl aber kann kein Camping mit Mauern und weissen Wänden geben.