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Die Kunst des Tragens

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Die Lektion der Tragenden

Nun saßen wir schon ein paar Tage in Ghana. Auch hier hatte die Umgebung die hitzige Schwere von Sonne, Luftfeuchtigkeit und Abgasen, die unserem Körper teilweise sehr zusetzte und am Abend in Müdigkeit umschlug. Wie so oft beobachtete ich die Menschen, die im Chaos aus Gerüchen und Wirrwarr auf einem der unzähligen Märkte verweilten, an dem wir anhielten, um zum Beispiel reife Mangos zu kaufen. Ich nahm mit der Nase den beißenden Geruch von getrocknetem Fisch und dem süßlichen Duft von Holzkohle und Schweiß wahr. Nun waren wir schon über 10 Wochen in Afrika unterwegs und versuchten, die Welt durch die Linse eines Beobachters zu verstehen, doch eine Sache entzog sich meiner europäischen Logik. Es war der Gang.

Ich beobachtete eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig, die sich durch das Gedränge schlängelte. Auf ihrem Kopf balancierte sie einen riesigen Stapel von Eiern in einem breiten Metallkorb. Ein einziger Fehltritt hätte eine Katastrophe bedeutet. Doch ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren; sie glitt förmlich.

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In Europa neigen wir dazu, unseren Körper beim Gehen zu bewegen, die Schultern zucken, die Hüften kippen. Aber diese Frau – und mit ihr Hunderte anderer Trägerinnen, die hier in Ghana „Kayayei“ genannt werden – schien eine statische Eleganz zu besitzen. Ihr Oberkörper war perfekt fixiert, die Wirbelsäule bildete eine unerschütterliche, senkrechte Achse, die direkt unter der schweren Last endete. Ihre Beine taten die eigentliche Arbeit, angetrieben von einer rhythmischen, aber minimalen Bewegung der Hüften. Die Bewegung war nicht verschwenderisch. Es war pure Energieeffizienz, eine lebende Physiklektion, die bewies, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine gerade, aufrechte Linie ist.

Ich dachte an meine eigene, oft schlaffe Haltung, das Ergebnis von Stunden über dem Laptop oder auf dem Fahrersitz von „Trudi“ und Lasten, die ich schon als Knabe asymmetrisch über die Schulter gehängt bekam. Ihr Gang aber, war die Antithese zur modernen Bequemlichkeit. Es war ein erlerntes Können, geboren aus Notwendigkeit und täglichem Training.

Schon lange versuchte ich, das Phänomen zu erklären: diese Grazie, diese Anmutung des Ganges, den ich beobachtete. Ich dachte: „Es ist das Gewicht auf dem Kopf, das den Gang bestimmt. Stell dir vor, du hast einen Topf mit heißem Eintopf auf dem Kopf. Du musst aufrecht gehen. Dein Körper findet den Sweet Spot. Das ist keine Schönheit, die man in einem Tanzstudio lernt, das ist die Schönheit der perfekten Balance.“

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Aber es war mehr als nur Balance. Es war die Art und Weise, wie die Bewegung von den Hüften ausging. Als eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken und einer schweren Schüssel Erdnüsse auf dem Kopf an uns vorbeischritt, bemerkte ich die sanfte, rhythmische Pendelbewegung der Hüften. Es war eine natürliche Bewegung, die durch die Kleidung betont wurde und jede Anstrengung auslöschte. Es war nicht gewollt erotisch, es war einfach souveräne Weiblichkeit. Ich verstand, dass diese Bewegungen in Afrika nicht als „sexy“ oder „verführerisch“ kontextualisiert wurden, wie man es in Europa vielleicht tun würde. Sie waren Ausdruck von Stärke, Lebenskraft und Gesundheit. Die kräftigen Kurven, die wir als auffällig empfanden, waren hier ein Zeichen von Wohlstand und Fruchtbarkeit, eine Verkörperung dessen, was der Körper leisten kann.

Ich verbrachte schon oft ganz still damit, nicht nur die Haltung, sondern auch die Füße zu beobachten. Sie setzten sanft auf, rollten ab und stießen ab – eine fließende Bewegung, die jegliches Wippen des Oberkörpers absorbierte. Wenn wir selbst versuchen, so zu gehen, mit einer Last auf dem Kopf, so werden wir zuerst kläglich scheitern. Die Balance im Körper zu finden, bedarf einer langjährigen Erfahrung und vielleicht auch einer Schulung, die die Mutter hier in Afrika wohl der Tochter schon von klein auf lehrt. Wie anders kann es sonst sein, dass selbst Kinder diese Technik schon in absoluter Reinheit beherrschen?

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Der graziöse Gang in Afrika ist nicht nur eine biomechanische Meisterleistung. Er ist eine tägliche, stille Behauptung von Kontrolle und Respekt – Respekt vor der Last, Respekt vor dem eigenen Körper und Respekt vor dem Weg, den man gehen muss. Es ist die Schönheit der Notwendigkeit, verwandelt in Kunst.

Wenn ich an meinen Rücken denke, der mich seit Jahren quält, weil ich ihn gewollt wie auch ungewollt sehr oft als Kind wie auch junger Mann überstrapaziert habe. Waren es die Rohre zum Güllen, die wir als Kind so oft durch die Gegenden tragen mussten, oder waren es die Beweise als junger Mann, der einen 120 kg schweren Amboss von A nach B getragen hat? Hier in Afrika gibt es sehr viele Arbeiten, die mit dem Tragen zu tun haben. Sind es Bauarbeiten mit Zementsäcken, sind es die Trägerinnen auf dem Markt, alle tragen die Lasten auf dem Kopf.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Erklärung, die ich für diesen Gang fand, durch die Recherche bestätigt wurde: Die aufrechte Haltung beim Kopftragen ist biomechanisch äußerst effizient, weil die Last vertikal über die Wirbelsäule geleitet wird, was die Hebelwirkung minimiert, die die Rückenmuskulatur bei Rucksäcken ausgleichen muss. Das Ergebnis ist eine bessere Haltung, trainierte Stützmuskulatur und somit weniger haltungsbedingte Schmerzen. Diese aktive Lebensweise wirkt als natürliches, tägliches Training gegen die zivilisationsbedingten Rückenleiden, die wir Europäer durch unser Sitzen kennen.

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Doch ich dachte auch über die Kehrseite nach: Die Belastungsgrenze. Allerdings ist das Tragen von schweren Lasten nicht risikofrei, vor allem wenn es über Jahrzehnte und mit extrem hohen Gewichten geschieht. Obwohl die Haltung während des Tragens perfekt ist, kann das schiere Gewicht über die Jahre zu einer Kompression der Bandscheiben in der Hals- und Lendenwirbelsäule führen. Schlussendlich sind alle Lasten, die von A nach B getragen werden müssen, für unseren Körper schädlich, wenn sie zu schwer oder eben so systematisch gemacht werden, dass Schäden entstehen müssen – insbesondere als Kind. Deshalb ist es wohl richtig, wenn man hier in Afrika ein Augenmerk auf Kinderarbeit richtet. Ich denke aber auch, die Verurteilung von solcher Arbeit bedarf der Differenzierung und sollte nicht generell nur als schlecht hingestellt werden. Siehe dazu vielleicht die Geschichte, die ich von Mohammed hier veröffentlicht habe.

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